27.06.2022
Eine globale Rezession könnte den geopolitischen Lauf der Geschichte womöglich dauerhaft und irreversibel verändern
Prof. Dr. Henning Vöpel
Prof. Dr. Henning Vöpel, cep | Centrum für Europäische Politik: Wenn sich die G7 vom 26. bis 28. Juni auf Schloss Elmau trifft, dann ist das fast wie eine Reise in die Vergangenheit. Als sich 1975 die damals noch kleinere G6 zum ersten Mal in Rambouillet traf, ging es um die Ölkrise und die wesentlich dadurch ausgelöste Stagflation. Heute sieht sich die Weltwirtschaft ähnlichen, aber dieses Mal wohl noch größeren, den Fortbestand von Frieden und Wohlstand betreffenden Herausforderungen ausgesetzt: Die Inflation ist mit Macht zurückgekehrt und eine globale Rezession am Horizont steht, während der Ukraine-Krieg, der zugunsten Putins zu kippen droht, die Stabilität der globalen Ordnung infrage stellt, die sich ohnehin in einer historischen Transition hin zu einer multipolaren Ordnung befindet. Ausdruck finden die geopolitischen Verschiebungen darin, dass im Moment alle großen Staaten schwach erscheinen: China, das durch die Pandemie bis heute arg gebeutelt ist und wo Xi Jinping, wie man hört, nicht mehr unantastbar ist, die USA, wo ein politischer Kulturkampf das Land spaltet und die Versöhnungsmission von Joe Biden zu scheitern droht, und Europa, wo das Einstimmigkeitsprinzip die EU zu einem geopolitischen Papiertiger macht und Macron als die natürliche europäische Führungsfigur nach der Parlamentswahl an Macht eingebüßt hat. Der „Westen“ insgesamt, der bis heute als ein unbestimmter politisch-historischer Mythos existiert, schwankt zwischen Renaissance und Bedeutungskrise. Über dem G7-Gipfel schwebt das Damoklesschwert einer nie gekannten Energiekrise und einer globalen Rezession, die noch einmal alles verändern und in Europa eine neue Eurokrise auslösen könnte. Eine Stagflation ist für eine Währungsunion besonders giftig, weil bei steigenden Zinsen die strukturelle Heterogenität stärker zutage tritt. So geht es beim G7-Gipfel auch darum, die Wirtschaftspolitiken zu koordinieren, um die Weltwirtschaft in eine „kontrollierte Rezession“ zu schicken. Die Ordnungsfrage: Wer kann einen spontanen Zerfall der Ordnung aufhalten? Niemand vermag heute zu sagen, wohin sich die Welt aus dem jetzigen Zustand heraus entwickeln wird. Aus der Geschichte wissen wir, dass in solchen Situationen unerwartete Ereignisse, auch an sich unbedeutende und unabhängige, die Entwicklungsrichtung plötzlich verändern können. Oftmals brach nach einem solchen Ereignis eine ohnehin fragile Ordnung vollends zusammen. Wenn dem so ist, heißt das womöglich, dass der Zustand der Welt bereits außer Kontrolle der Politik geraten ist und die G7 in Elmau diese Kontrolle zurückgewinnen muss. Ereignisse, die den Weltenlauf plötzlich verändern können, könnten die Kongresswahlen in den USA im November oder eine globale Hungerskatastrophe sein. Die vielleicht größte Gefahr aber geht in den kommenden Wochen von einer möglichen globalen Rezession aus. Aufbrechende Verteilungskonflikte und innenpolitische Spannungen könnten den Blick der Staaten noch stärker nach innen wenden. Ein weltwirtschaftlicher Desintegrationsprozess würde die globale Rezession noch verstärken, die Regeln der Globalisierung womöglich dauerhaft verändern. Wenn der Eindruck richtig ist, dass heute alle wichtigen Staaten angeschlagen sind, kann die Stärke nur in einer geschlossenen Allianz liegen. Vor diesem Hintergrund kommt der G7 eine große Bedeutung zu. Wahrscheinlich kann nur sie im Augenblick das Maß an Einigkeit und Stabilität bereitstellen, das nötig ist, um einen möglichen spontanen Zerfall der Ordnung zu verhindern. Die Europa-Perspektive: Woher soll die Stärke Europas kommen? „Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will?“ Diese berühmte Frage Henry Kissingers lässt sich bis heute nicht wirklich beantworten. Die europäische Integration war bislang auf die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes gerichtet. Das Einstimmigkeitsprinzip verhinderte, dass die EU je eine klare außen- und sicherheitspolitische Position formulieren konnte – sie war einfach nicht mit der entsprechenden Legitimität und Macht unterlegt. Europas Defizit an geostrategischer Kompetenz mag ursächlich hierin begründet sein. Es ist indes unmöglich, das Einstimmigkeitsprinzip in qualifizierte Mehrheiten zu überführen, ohne diese Entscheidung selbst einstimmig zu treffen. Orban wird dem kaum zustimmen, denn das Einstimmigkeitsprinzip sichert ihm die Möglichkeit, eigene nationale Interessen politisch zu erpressen. Die Hoffnung, Europa könne in absehbarer Zeit das erforderliche geopolitische Gewicht entwickeln, ist daher nicht allzu groß. Umso mehr richtet sie sich auf die G7 und den Gipfel auf Schloss Elmau. Dort muss und nur dort kann sich die politische Ordnungsmacht der freien Demokratien bilden, die in den kommenden Monaten und Jahren dringend gebraucht wird. Europa allein wird das nach Lage der Dinge nicht schaffen. Der Ordnungsruf geht an die G7, jetzt ein klares Signal der Einigkeit und Entschlossenheit zu senden. Eine enge Koordination ist sowohl geopolitisch als auch weltwirtschaftlich vonnöten. Eine globale Rezession könnte den geopolitischen Lauf der Geschichte womöglich dauerhaft und irreversibel verändern. Es wird sich zeigen, ob das gemeinsame Sicherheitsinteresse der G7 stark genug ist, um Putins Sieg in der Ukraine zu verhindern, und das gemeinsame Wirtschaftsinteresse groß genug, um zu verhindern, dass die Weltwirtschaft in eine unkontrollierte Rezession rauscht. >> Kontakt Zum aktuellen Club-Impuls |
>> Ich bin kein Mitglied und bitte um einen Testzugang |
||
Deutscher Journalistenpreis Kennedyallee 93 60596 Frankfurt/Main Kurator: Volker Northoff Telefon +49 (0)69 40 89 80-00 Telefax +49 (0)69 40 89 80-10 info@djp.de Impressum Datenschutzerklärung |
|||